Es geht dabei um mehr als das durch wissenschaftliche Studien und jahrelange Beobachtungen erworbene theoretische Wissen, welche Vögel wann von A nach B und (wenn sie es schaffen) zurück fliegen, es geht um das unmittelbare Erleben eines Naturschauspiels, das wir live und unverfälscht sehen und genießen dürfen.
Ich habe das Glück, an einem Ort zu leben, an dem dieses für viele erlebbare, aber von wenigen erlebte, Phänomen relativ gut zu beobachten ist – auf einer „Leitlinie“ am westlichen Rand der Nordsee, in der Nähe von Filey in der englischen Grafschaft North Yorkshire. In Teil 1 [Live-Link] haben wir uns zunächst die verschiedenen Arten des sichtbaren Vogelzugs angeschaut und uns anschließend auf die Vögel konzentriert, die nach einer gefahrvollen Meeresüberquerung hier an der Küste landen.
In den folgenden Abschnitten werden wir uns nun genauer mit einem Vismig-Typ beschäftigen, der keineswegs auf Landzungen, Landspitzen oder Halbinseln beschränkt ist – den sichtbaren Vogelzug entlang von Leitlinien. Tatsächlich ist dies der Typ, der die meisten Aufzeichnungen, Beobachter und Hotspots aufweist.
Was genau ist eine „Leitlinie“? Einfach ausgedrückt handelt es sich bei einer Leitlinie um ein geografisches oder topografisches Merkmal, das Zugvögel in eine bestimmte Richtung „leitet“. Dies kann ein flacher Hang, eine höhere Hügelkette, eine Küstenlinie oder auch die Grenze zwischen zwei verschiedenen Lebensraumtypen sein, wobei der wichtigste gemeinsame Nenner die Richtung der Leitlinie ist, die dadurch gebildet wird, sowie die Übereinstimmung mit dem vorherrschenden „Verlauf“ des Vogelzugs im Frühling und/oder Herbst.
VISMIG IST DIE KURZFORM VON „VISIBLE MIGRATION“ UND BEZEICHNET DEN SICHTBAREN VOGELZUG, ALSO DIE SAISONALEN VOGELBEWEGUNGEN, DIE WIR SELBST BEOBACHTEN KÖNNEN.
Hier an der Küste von North Yorkshire ist der sichtbare Vogelzug entlang von Leitlinien vornehmlich von März bis Mai sowie von August bis in den November hinein zu beobachten (und in geringerem Maße auch außerhalb dieser Zeitfenster), aber wie bei den meisten anderen Vogelzugphänomenen ist der Herbst die Hochsaison. Egal, welchen Ort Sie für das Vismigging auswählen – Wind und Wetter entscheiden letztendlich darüber, ob der Vogelzug stattfindet oder nicht.
Ich habe in den letzten Jahren einige schöne Orte ausprobiert, mich nun aber vorerst für Reighton Sands entschieden, wo ich einen guten Beobachtungsplatz in der Rundung der Bucht gefunden habe. Wenn ich nach Nordwest schaue (die Richtung, aus der die meisten Zugvögel im Herbst ankommen), habe ich auf der rechten Seite das Meer, vor mir ein malerisches erhöhtes Landpanorama und hinter mir die beeindruckenden Kreidefelsen von Bempton.
Es ist wichtig, dass man einen Standort an einer relativ „gleichmäßigen“ Küstenlinie auswählt, am besten an einer Küste, die grob in Nord-Süd-Richtung verläuft. Was dies angeht, sind die Voraussetzungen für die Beobachtung des sichtbaren Vogelzugs hier unabhängig von den variablen Bedingungen gut, und einige größere Vogelarten (darunter Gänse und Schwäne als Paradebeispiele) nutzen die Küstenlinie als Standardroute, genau wie zahlreiche Generationen ihrer Spezies vor ihnen.
Abgesehen von solchen Beispielen ist die Situation ohne günstige Wind- und Wetterbedingungen teilweise sehr schwer vorherzusehen. Treffen aber die richtigen Bedingungen zum richtigen Zeitpunkt zusammen, können daraus beeindruckende Bewegungen von Singvögeln und anderen Vogelarten entstehen, die den Himmel direkt über unserem Kopf (und darum herum!) zum Leben erwecken.
Zu den idealen Bedingungen gehören ein Wechsel von Hoch- zu Tiefdruck sowie ein mäßiger Wind aus Südwest. Warum? Ziehende Sperlingsvögel könnten sich grundsätzlich gut auf einer breiten Front bewegen, aber der südwestliche Wind treibt sie in Richtung der Küste und engt sie auf eine schmalere Leitlinie ein. Um nicht unnötigerweise Energie zu verschwenden und sich den Gefahren auszusetzen, die mit Streckenabschnitten über dem Meer verbunden sind, halten sie beim Weiterfliegen Kontakt mit der Küste.
Die Bewegungen im Herbst nehmen ab Anfang September Fahrt auf und ziehen sich bis Mitte November. Treffen die oben genannten Bedingungen zusammen, sind während des gesamten Zeitraums Bewegungen zu beobachten, aus denen eine faszinierende Dynamik unter Beteiligung verschiedenster Spezies entsteht.