Verbesserung der Gesundheitsversorgung durch User Experience Design in der Entwicklung medizinischer Software

In medizinischen Einrichtungen, wie Arztpraxen oder Krankenhäusern, findet man eine Vielzahl verschiedener medizinischer Systeme und Softwarelösungen, jeweils mit eigenen Arbeitsabläufen, Funktionen, und Benutzeroberflächen (User Interfaces, UIs). Im komplexen Bereich der Gesundheitstechnologie, wo medizinische Software zunehmend anspruchsvoller wird, ist die Integration von User Experience (UX) Design von entscheidender Bedeutung, um sowohl Patienten und Patientinnen als auch medizinischem Fachpersonal einen echten Mehrwert zu bieten. 

Der nutzerzentrierte Ansatz gemäß ISO 9241 schafft Lösungen, die nicht nur technisch ausgereift sind, sondern Anwender:innen auch in der realen medizinischen Praxis bestmöglich unterstützen. Er gewährleistet sowohl pragmatische Qualitäten wie Sicherheit und Nutzbarkeit (Usability) für eine effiziente und effektive Zielerfüllung, als auch hedonische Aspekte wie Zufriedenheit der Nutzenden. Besonders im Bereich der Medizintechnik ist der Sicherheitsaspekt von entscheidender Bedeutung und wird in regulatorischen Standards wie IEC 62366-1 oder den Medical Device Regulations (MDR) der EU präzise definiert. 

Dieser Artikel widmet sich der facettenreichen Disziplin des UX-Designs im medizinischen Bereich. Wir untersuchen, welche Bedeutung UX-Design in der Entwicklung medizinischer Software hat und wie der prozessorientierte Ansatz des menschzentrierten Designs erfolgreich umgesetzt werden kann. Wir zeigen auf, wie durch dessen Anwendung Behandlungsergebnissen und Versorgungsstandards nachhaltig verbessert werden können. 

Bedeutung von UX-Design in der Entwicklung medizinischer Software 

Die Rolle von UX-Design in der Entwicklung medizinischer Software ist entscheidend für die Realisierung durchdachter und benutzerfreundlicher Lösungen. Diese Lösungen bieten zahlreiche Vorteile, von optimierten Arbeitsabläufen für medizinisches Fachpersonal über verbesserte Sicherheit und mehr Komfort für Patienten und Patientinnen bis hin zu Kosteneinsparungen und gesteigerten Verkaufszahlen. UX-Design umfasst wesentlich mehr als nur das pixelgenaue Design grafischer UIs und konzentriert sich auf die Entwicklung von Systemen, die speziell auf die einzigartigen Anforderungen und Kontexte im Gesundheitswesen abgestimmt sind. Es ermöglicht Unternehmen, sich in einem wettbewerbsintensiven Markt zu positionieren und von Mitbewerbern zu differenzieren. 

Im Folgenden erläutern wir fünf zentrale Gründe, warum UX-Design bei der Entwicklung medizinischer Softwarelösungen von besonderer Bedeutung ist: 

  1. Steigerung der Effizienz 
    Ein gutes Interaktionsdesign fördert den natürlichen Dialog zwischen Software und Anwender:in. Interaktionselemente werden schnell zugänglich und verständlich gestaltet, um eine effiziente Bedienung zu ermöglichen. Dadurch bleibt dem medizinischen Fachpersonal mehr Zeit für wertschöpfende Aufgaben. Anders ausgedrückt: wenn Nutzer:innen sich nicht mit komplexen Bedienoberflächen oder unverständlichen Prozessen abmühen müssen, können sie sich besser auf die Betreuung der zu behandelnden Personen konzentrieren, was die Versorgungsqualität verbessert. 
     
  1. Vermeidung und Verminderung von Fehlern  
    Im medizinischen Bereich können Fehler schwerwiegende, mitunter sogar tödliche Folgen haben. Medizintechnikunternehmen sind gesetzlich verpflichtet Risiken zu eliminieren oder zumindest zu minimieren, um sicherzustellen, dass ihre Systeme sicher bedient werden können. Indem UX-Designer:innen die Bedürfnisse und Denkmuster der Nutzenden verstehen, können sie Funktionen in der Software integrieren, die die Fehlertoleranz erhöhen und die Wahrscheinlichkeit von Fehlern während der Bedienung reduzieren. Konzepte, die Nutzende intuitiv führen und mit Sicherheitsmechanismen ausgestattet sind, sind in diesem Bereich, in dem kein Raum für Fehler besteht, von entscheidender Bedeutung. Die Norm IEC 62366-1 beschreibt einen detaillierten Usability-Engineering-Prozess, der sicherstellt, dass Risiken bei der Nutzung medizinischer Systeme minimiert werden. 
     
  1. Reduktion kognitiver Belastung 
    Eine reduzierte kognitive Belastung ermöglicht es den Anwendern und Anwenderinnen, natürlicher zu arbeiten. Wichtige Informationen werden leicht zugänglich gemacht und so präsentiert, dass sie mit klinischen Arbeitsabläufen harmonieren. Im hektischen medizinischen Umfeld, das von hohem Belastungsniveau und Arbeitstempo geprägt ist, stellt der menschzentrierte Ansatz eine entscheidende Strategie dar, um das Risiko der kognitiven Überlastung zu mindern. Dies trägt nicht nur zur generellen Sicherheit während der Interaktion bei, sondern fördert auch das Vertrauen der Nutzenden in die Systeme. 
Reduzierte kognitive Belastung trägt dazu bei, Fehler im hektischen medizinischen Umfeld zu vermeiden.
  1. Verminderung von Schulungsaufwand 
    Menschzentrierte medizinische Software verringert den Schulungsaufwand, den Nutzende benötigen, um sich mit der Software vertraut zu machen. Intuitives Design entspricht den Erwartungen und Vorkenntnissen der Anwender:innen, wodurch der Lernprozess beschleunigt und die Integration in die Praxis erleichtert wird. Dieser Aspekt ist insbesondere im Gesundheitswesen von höchster Bedeutung, wo Zeit eine besonders knappe und wertvolle Ressource ist. 
  1. Verbesserung der Konsistenz 
    Effektives UX-Design berücksichtigt nicht nur einzelne Produkte und Arbeitsabläufe, sondern die gesamte bestehende klinische Infrastruktur. Ziel ist es, Informationen einheitlich über alle Produkte und Arbeitsabläufe hinweg zu erfassen und darzustellen. Ein Designsystem wie „Beyond“ von ZEISS, kombiniert mit beispielsweise der ZUi Webkomponenten-Bibliothek, die einsatzbereite Softwarekomponenten bereitstellt, gewährleisten einheitliche Interaktionsmuster und ein konsistentes Erscheinungsbild. Dies reduziert den Aufwand für Design, Implementierung und Wartung für die Hersteller medizinischer Systeme und führt zu geringerem Schulungsaufwand sowie verbesserter Effizienz für die Anwender:innen. 

Integration von UX-Design in die Entwicklung medizinischer Software 

In der Entwicklung medizinischer Software ist die Disziplin des UX-Designs untrennbar mit dem prozessorientierten Ansatz des menschzentrierten Designs (User-Centered Design, UCD) verknüpft. Dieser Ansatz zielt darauf ab, durch die Einbindung der Endanwender:innen in den Entwicklungsprozess, eine nahtlose Interaktion zwischen Nutzenden und der medizinischen Software zu ermöglichen. Dabei stehen die Bedürfnisse und Einschränkungen der Menschen sowie der Nutzungskontext im Mittelpunkt des Designprozesses. Im komplexen medizinischen Bereich, wo das Spektrum der Nutzenden von Pflegekräften und Ärzten/Ärztinnen über Servicemitarbeitende bis hin zu Patienten/Patientinnen reicht, stellt dies eine besondere Herausforderung dar. Letztendlich sollte sich die medizinische Software an die Anwender:innen anpassen, nicht umgekehrt – die Anwender:innen, die sich an die Software anpassen müssen.  

Das iterative Prinzip des UCDs, in Verbindung mit einem agilen Softwareentwicklungsansatz, erfordert mehrere Zyklen zur Verfeinerung der Softwarelösungen. In Anlehnung an ISO 9241-210 umfasst der UCD Prozess vier Schlüsselphasen: 

Der User-Centered Design (UCD) Prozess adaptiert nach ISO 9241-210.

  • Verstehen und Festlegen des Nutzungskontexts 
    In dieser Phase werden die zukünftigen Nutzenden sowie deren Aufgaben, Aktivitäten und Ziele analysiert. So soll sichergestellt werden, dass die finale medizinische Software den Erwartungen und Bedürfnissen der Anwender:innen entspricht und sie bei der Zielerfüllung unterstützt. Außerdem sollte eine Kontextanalyse durchgeführt werden, um die spezifische Arbeitsumgebung und Arbeitsbedingungen im Gesundheitswesen zu verstehen. Ergebnisse können Personae (Benutzergruppenprofile), Aufgabenbeschreibungen, oder Szenarios sein. Informationen werden durch direkten Austausch mit den späteren Nutzenden, wie Patienten/Patientinnen, Ärzten/Ärztinnen und anderen Gesundheitsdienstleistenden, gesammelt. Typischerweise kommen Methoden wie Umfragen, Interviews und Beobachtungen zum Einsatz.
  • Spezifizieren der Nutzungsanforderungen 
    In dieser Prozessphase werden aus den Erkenntnissen der vorausgegangenen Phase konkrete Anforderungen und Designempfehlungen abgeleitet. Dabei werden sowohl funktionale als auch nicht-funktionale Anforderungen erfasst, die auf die besonderen Bedürfnisse medizinischer Einrichtungen zugeschnitten sind. Das Ziel besteht darin, die Kluft zwischen den abstrakten Erkenntnissen aus der Datensammlung und der praktischen Umsetzung zu überbrücken und sicherzustellen, dass die Bedürfnisse und Erwartungen der Nutzenden effektiv in spezifische und handlungsorientierte Anforderungen und schließlich in die medizinische Softwarelösung einfließen. 
  • Erarbeiten von Gestaltungslösungen, die die Nutzungsanforderungen erfüllen 
    In diesem Schritt des Prozesses werden die identifizierten Anforderungen in konkrete Interaktions- und UI-Konzepte überführt, die schließlich in der Software implementiert werden. Dies umfasst die Erstellung von User Flows, Wireframes, Prototypen und detaillierten UI-Designs, sowie die Zusammenarbeit mit dem Entwicklungsteam. Die Arbeit mit Prototypen, von einfachen Low-Fidelity-Darstellungen bis hin zu ausgefeilten High-Fidelity-Versionen, ermöglicht es UX-Designern und UX-Designerinnen, effizient durch verschiedene Lösungsansätze und Designvarianten zu iterieren.
  • Evaluieren der Gestaltungslösungen anhand der Anforderungen 
    In dieser Phase werden die Funktionalität und Leistungsfähigkeit der konzipierten Wireframes, Prototypen oder Softwarelösungen bewertet, um sicherzustellen, dass sie den definierten Nutzungsanforderungen entsprechen. Kontinuierliches Feedback ermöglicht eine umfassende Bewertung und stellt sicher, dass die Benutzerbedürfnisse und -erwartungen erfüllt werden. Die formative Evaluation umfasst Bewertungen von Experten und Expertinnen unter Verwendung verschiedener qualitativer und quantitativer Methoden, wie beispielsweise heuristische Evaluationen, kognitive Walkthroughs, und Usability-Tests in realen medizinischen Umgebungen. Summative Akzeptanztests schließen den Evaluierungsprozess ab. 
Wireframes und Prototypen ermöglichen es UX-Designern und UX-Designerinnen, verschiedene Lösungsvarianten und Designkonzepte kontinuierlich zu evaluieren. 

Schlussgedanken 

UX-Design spielt eine entscheidende Rolle bei der Entwicklung medizinischer Software und bringt den technologischen Fortschritt mit Grundwerten des Gesundheitswesens in Einklang. Es geht darum Software für echte Menschen in realen Situationen zu entwickeln, um nicht nur pragmatische Anforderungen zu erfüllen, sondern letztendlich positive Nutzererfahrungen zu schaffen. Dies kann die Behandlungsergebnisse erheblich verbessern und den Versorgungsstandard erhöhen.  

Die Integration von UX-Design in die medizinische Softwareentwicklung ist eine Investition in die Qualität der Gesundheitsversorgung. Da in Zukunft medizinische Software zunehmend in alle Bereiche des Gesundheitswesens integriert sein wird, wird das Engagement für UX-Design über den Erfolg oder Misserfolg von medizinischen Systemen entscheiden. 


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Dieser Beitrag wurde verfasst von:

Dominik Tim Schlackl

Dominik Tim Schlackl hat einen Masterabschluss in User Experience Design und arbeitet als Consultant User Experience Design für ZEISS Digital Innovation im Bereich Medizintechnik mit Fokus auf Ophthalmologie. Er konzentriert sich auf Usability Engineering, Interaktionsdesign und die Anwendung des nutzerzentrierten Designprozesses (UCD), um Mensch-Maschine-Schnittstellen zu konzipieren, die sowohl pragmatische als auch hedonische Anforderungen einer bestimmten Benutzergruppe erfüllen. Zu seinen Kernkompetenzen zählen Wireframing- und Prototyping-Prozesse, User Interface Design, qualitative Benutzer- und Kontextanalysen, sowie quantitative UX-Evaluationen.

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